Architektur der 1920er Jahre im schlesischen Liegnitz ‒ dem heutigen Legnica

Das architektonische Erbe von Liegnitz aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde wenig in den Blick der Forscher genommen. Einerseits wurde die Aufmerksamkeit auf das benachbarte Breslau (Wrocław) mit seinen berühmteren Gebäuden und anerkannten Architekten Hans Poelzig, Max Berg und Erich Mendelsohn gelenkt. Andererseits dienten große Teile der Stadt bis 1993 als Quartier der sowjetischen Streitkräfte und waren faktisch nicht zugänglich. Ein weiterer wichtiger Unterschied zu Breslau besteht darin, dass in Liegnitz zahlreiche Projekte im Stadtbauamt oder in den Büros von Siedlungsgesellschaften durchgeführt wurden. Auf diese Weise wurden die Projektautoren anonymisiert. Abgesehen davon gibt es in Liegnitz keine bedeutenden Bauwerke der Moderne, aber die lokale Architektur drückt sich in einem anderen, mehr der Tradition verpflichteten Moderne aus. Bereits in den 1880er Jahren im Zusammenhang mit der Heimatbewegung, die als Reaktion und Protest gegen die Industrialisierung entstand, wurden regionale Bauweisen als Heimatstil wiederentdeckt.

Politischer Kontext
In der Zeit der Weimarer Republik wurde der Stadtrat in Liegnitz zwar leicht von der national-konservativen Deutschen Volkspartei (DVP) und der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) dominiert, dennoch prägten sie unter der Führung des Bürgermeisters Hans Charbonnier (DVP) den konservativen Kurs der Stadtpolitik. Die politische Kontinuität setzte sich durch Paul Oehlmann fort, der das Amt des Stadtbaurats bekleidete und das moderne Stadtbild durch Projekte und Bauentscheidungen prägte.

„Versachlichung“

Die Reform des Wohnungsbaus schon vor dem Ersten Weltkrieg manifestierte sich vor allem in der Abkehr vom Kopieren historischer Stile durch Vereinfachung der Formen ‒ „Versachlichung“ ‒ und Verzicht auf Ornamente. Während sich in einigen Städten nach dem Ersten Weltkrieg die Avantgarde schnell zu einer rein kubistischen Ästhetik entwickelte, orientierte sich die Vorstadtentwicklung weiterhin am Heimatstil und spiegelte sich in künstlerischen Landschaften und der Schaffung von Gartenstädten wie Hellerau in Dresden wider. Aber das Baugeschehen in Liegnitz ist noch etwas Originelles und wird sogar als die andere Moderne bezeichnet, nicht als Moderne im üblichen Sinne des Wortes.

Karte von Polen

Nehmen wir die zehn einzelnen Gebäude aus den Jahren 1919-1933 unter die Lupe.

Bahnhof

Bauzeit: 1922-1929, Entwurf: unbekannt

Das Gebäude, das die mit der Bahn Anreisenden als erstes sehen. Das heutige Empfangsgebäude wurde zwischen 1922 und 1929 gebaut.

Das farbenfrohe und sorgfältig sanierte Bahnhofsgebäude ist eine Mischung aus verschiedenen Stilen. Der Giebel des Risalits erinnert an die historischen Stufengiebel und der Mittelrisalit krönt den Haupteingang. Die langgestreckten Fenster an den Giebeln sind dem gotischen Stil der Kathedralen mit ihren vertikal gestreckten Fenstern nachempfunden. Gotisierende Motive sind in dieser Stadt an mehreren Stellen zu finden.

Im Inneren bestimmen Keramikkacheln in Türkis und Schwarzgrün das Erscheinungsbild des Bahnhofs. Die Fahrkartenschalter sind mit interessanten Holztheken und filigrane Pfeiler ausgestattet.

Adresse: Kolejowa 2, 59-220 Legnica, Polen

Verwaltungsbau der Allgemeinen Ostkrankenkasse der Stadt Liegnitz (heute DOM)

Bauzeit: 1927, Entwurf: Konrad Beicht

Ein repräsentatives Beispiel für einen Zwitter aus den 1920er Jahren – ein Gebäude, das mehrere Stile vereint.

Das viergeschossige Gebäude aus verschiedenfarbigem Klinker ist im oberen Bereich durch horizontale Linien und eine relativ große Glasfläche gegliedert. Der Klinker ist flachgedeckt. All dies weist auf die Einflüsse des Neuen Bauens hin. Ein durchgehendes Glasband mit kleinen Stürzen wurde aber bei diesem Projekt nicht realisiert. Auch in diesem Gebäude findet sich ein Element des Neoklassizismus: Die Eingangsgruppe und die fünf Fenster darüber sind risalitartig hervorgehoben.

Adresse: Senatorska 1, 59-220 Legnica, Polen

Wohnhausgruppe „Heimat“

Bauzeit: 1927-1928, Entwurf: Konrad Beicht

Die bewusste Bezugnahme auf die lokale Bautradition war bis in die zweite Hälfte der 1920er Jahre grundlegend für die Liegnitzer Architektur. Die Wohnhausgruppe „Heimat“ ist das beste Beispiel für eine solche Architektur, und schon der Name spricht für sich.

Die vielen spitzen, stark profilierten Elemente, die Skulpturen in den Nischen und die Sgraffitomalerei bilden ein expressives historisches Ensemble mit gotisierenden Elementen.

Dieser Stil mit seinen regionalen Variationen hat sich in ganz Deutschland verbreitet, aber in Liegnitz ist ein Zweig dieses Stils immer noch ein eigenständiges Phänomen.

Adresse: Działkowa 12-20, 59-220 Legnica, Polen

Elfmannbau

Bauzeit: 1930-1931, Entwurf: unbekannt

Der Elfmannbau ist das berühmteste Beispiel des Neuen Bauens in Liegnitz. Das Gebäude wurde am Eingang zur Altstadt errichtet und von einem privaten Investor finanziert. Das ursprüngliche Projekt umfasste 40 Wohnungen, ein Ladenlokal, ein Kino mit Café und Kegelbahnen. Vermutlich musste der zweite Bauabschnitt mit Café und Kino aufgrund der Weltwirtschaftskrise aufgegeben werden.

Fünfstöckiges Gebäude mit Flachdach und rundem Erker ist durch Höhenstaffelungen und Rücksprunge gegliedert. Die großen Wandflächen lassen das Bauwerk massiv erscheinen.

Adresse: Dziennikarska 11, 59-220 Legnica, Polen

Wohnhaus an der Grünstraße

Bauzeit: 1930, Entwurf: unbekannt

Nicht weit vom Stadtpark entfernt, ähnelt das Mehrfamilienhaus dem Elfmannbau. Der Architekt dieses alleinstehenden Gebäudes ist unbekannt, aber die beiden Gebäude werden aufgrund ihrer Ähnlichkeit demselben Architekten zugeschrieben.

Wohnhaus in Liegnitz

Ursprünglich wurden hier drei gehobene Wohnungen geschaffen, später wurde noch eine Wohnung im Dachgeschoss eingerichtet. Eine Besonderheit dieses Gebäudes ist ein Erker mit farbiger Verglasung, der sich über drei Etagen erstreckt. Die kubische Form des Gebäudes, das runde Fenster über dem Erker – Schiffsmetaphorik – sind alles Zeichen des Neuen Bauens. Nur die großen Wandflächen zwischen den Fenstern und der Umrahmung des Eingangsbereichs passen nicht in das neue Paradigma.

Adresse: Kazimierza Wielkiego 9, 59-220 Legnica, Polen

Polizeigefängnis

Bauzeit: 1929-1930, Entwurf: Paul Oehlmann

Strenge vertikale Linien säumen die Fassade des Tores, die Aufwärtsbewegung wird durch scharfe pfeilförmige Elemente verstärkt. Die Fassade ist mit einem Klinkermuster verkleidet, ein filigranes Metallgitter krönt die Fassade.

Polizeigefängnis in Liegnitz

Die brutale Umrahmung des Tores selbst erinnert an die Funktion des Bauwerks, das sich heute in einem baufälligen Zustand befindet.

Adresse: Ignacego Daszyńskiego 18, 59-220 Legnica, Polen

Erweiterungsbau der Katholischen Schule, heute Grundschule

Bauzeit: 1928-1930, Entwurf: Paul Oehlmann (?)

Das Gebäude in gotisierenden Formen wurde zwischen zwei bestehenden Gebäuden errichtet und wirkt sowohl stilistisch als auch farblich wie ein Fremdkörper.

Aufgrund der Materialwahl und der Ähnlichkeit des Stils zum Polizeigefängnis wird dieses Gebäude Paul Oehlmann zugeschrieben.

Adresse: Rycerska 13, 59-220 Legnica, Polen

Wohnhausgruppe Fa. Adolph

Bauzeit: 1928-1930, Eckhaus 1931, Entwurf: Konrad Beicht

Horizontale Linien aus Putz und Klinker, sowie die in zwei Gruppen zusammengefassten Balkone gliedern die Fassade. Der Rhythmus wird in der Vertikalen durch die Trennwände zwischen den Balkonen ausgeglichen, die eine gestrichelte Linie bilden. Nur das Satteldach entspricht nicht den Vorschriften des Neuen Bauens.

Wohnhausgruppe in Liegnitz

Der turmförmige Gebäudeteil des Eckhauses zieht in dieser Baugruppe die meiste Aufmerksamkeit auf sich. Die versetzten Fenster gehören nicht zum Treppenhaus, wie man auf den ersten Blick vermuten könnte, sondern sind Fenster in den Badezimmern der an den Turm anschließenden Wohnungen.

Adresse: Jaworzyńska 41, 59-220 Legnica, Polen

Wohnhausgruppe

Bauzeit, Entwurf: unbekannt

In diesem Gebäude sind die Ähnlichkeiten mit dem Elfmann-Haus und dem Wohnhaus der Familie Adolph deutlich spürbar: die Höhenstaffelung, die Rücksprünge und die vertikale Gliederung durch Balkontrennwände.

Die runden Fenster – wieder Schiffsmetaphorik – erinnern an das Wohnhaus an der Grünstraße.

Wohnhausgruppe in Liegnitz

Adresse: DK3 127, 59-220 Legnica, Polen

Siedlung Neuland

Bauzeit: 1929-1931, Entwurf: Hugo Leipziger

Die Siedlung Neuland verfüg über 260 Zwei- und Dreizimmerwohnungen und war die größte Siedlung jener Zeit in Liegnitz.

Eine wichtige Rolle bei diesem Entwurf spielte die symmetrische Anordnung der zentralen Gebäude, die zusammen mit dem dazwischen liegenden Verwaltungsgebäude einen kleinen Platz vor ihnen bilden. Alle Kontraste sind sehr ausdrucksstark und die Formen sind klar und einfach: die zwei dominierenden Gebäude mit Klinkerfassaden, die anderen Gebäude in gebrochenem Weiß und in anderen Pastellfarben verputzt; rechteckige und abgerundete Balkone, die nahtlos an die Fassade angrenzen; die Vertikalen der Glasbausteinfenster in den Treppenhäusern, die einen kohärenten Rhythmus schaffen.

Siedlung Neuland in Liegnitz

Adresse: Aleja Rzeczypospolitej 99, 59-220 Legnica, Polen


Dies hat zu lange gedauert, um das Interesse der Öffentlichkeit und der Forschung an diesen Gebäuden zu wecken, und viele der Gebäude sind heutzutage dringend sanierungsbedürftig. Der Zustand der Häuser ist sehr unterschiedlich: Bei einigen Renovierungen wurden neue Details in Form von verschiedenen Kunststofffensterrahmen und Klimaanlagen an den Fassaden angebracht, bei anderen wurden die stilistischen Merkmale der ursprünglichen Gebäude beibehalten. Es verdient Respekt, wenn eine Stadt und ihre Bevölkerung versuchen, ihr architektonisches Erbe zu bewahren, und ich freue mich über jedes Detail, das erhalten bleibt.

Bonus

Vier deutsche Notgeldscheine (Vorder- und Rückseite) aus Liegnitz, im Wert von 50, 25, 10 und 1 Pfennig.