Städtebauideal
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden in Europa Ideen für eine neue Stadtplanung aktiv diskutiert. Der Gedanke, eine Stadt von Grund auf neu zu errichten und dabei alle Unzulänglichkeiten der bestehenden, aus dem Mittelalter stammenden Städte zu berücksichtigen, schien von großer sozialer Bedeutung zu sein. Utopische Konzepte, wie beispielsweise Gartenstädte, wurden als natürliche Weiterentwicklung der Stadtplanung angesehen und sollten mit der richtigen Planung realisierbar werden.
Das Hauptmerkmal der neuen Stadt sollten offene, breite Straßen sein, die im Gegensatz zu den verworrenen Straßennetzen der mittelalterlichen Städte stehen sollten. Das Konzept der neuen Stadt entstand aus dem klaren Wunsch nach Offenheit und Weite der Räume.
Phänomen Hellerau
Der Möbelfabrikant Karl Schmidt gründete 1909, inspiriert von der Gartenstadtidee des Engländers Ebenezer Howard, in der Dresdner Vorstadt die Gartenstadt Hellerau, für die der Architekt Richard Riemerschmid engagiert wurde. Riemerschmid war mit den Anforderungen und Bestrebungen des neuen Stadtideals vertraut, doch als Künstler fühlte er sich von den Ansichten des Österreichers Camillo Sitte angezogen, der vor allem die künstlerischen Aspekte der Stadtplanung betonte. Obwohl die wirtschaftlichen Faktoren eine wichtige Rolle spielten, war Riemerschmid auch von der Idee eines wandelbaren und abwechslungsreichen Straßenbildes und der Berücksichtigung der landschaftlichen Gegebenheiten beeindruckt. So trafen Idealität, Pragmatismus und Fachwissen aufeinander und wurden in einem einzigartigen städtischen Raum namens Hellerau verkörpert.
Städtebauliche Anforderungen
Für Wohnhäuser wurden interessante Anforderungen festgelegt, die sich direkt auf das Erscheinungsbild der Stadt auswirkten. Der Entwurf sah freistehende zweigeschossige Einfamilienhäuser vor, aber viel billiger waren Reihenhäuser, die maximal 70 Meter lang sein konnten. Häuserzeilen konnten nur dann eine geschlossene Blockrandbebauung bilden, wenn die Gartengrundstücke groß genug waren. Auch für den Abstand zwischen den Rückfronten der Häuser galt eine minimale Länge von 60 Metern. Zwischen den Reihenhäusern wurden aus Kostengründen keine Brandmauern errichtet, aber nach 30 Metern geschlossener Bauweise war eine solche dennoch erforderlich.
Fassaden und Flächen von Häusern und Grundstücken
Viele der Angaben bei der Planung der Häuser waren streng festgelegt und basierten auf dem Verhältnis von Fensterfläche zu Raumfläche. Karl Schmidt betont in seinen Erinnerungen, dass dies für Deutschland damals ein Neuland war. Nach den Bauvorschriften mussten die Häuser so angeordnet sein, dass der Lichteinfallswinkel auf jeder Gebäudeseite mit Fenstern 45° betrug. Die Größe eines Fensters in einem Wohnraum musste mindestens ein Achtel seiner Fläche betragen, für Räume ohne direkte Sonneneinstrahlung war sogar ein Sechstel erforderlich. Die Höhe der Wohnräume in Reihenhäusern sollte mindestens 2,60 m betragen, bei freistehenden Einfamilienhäusern konnte sie auf 2,40 m gesenkt werden. Die Mindestwohnfläche wurde auf 48 m2 festgelegt.
Was die Kleingärten betrifft, so wurden diese Flächen wie folgt vor der Bebauung geschützt: Nur ein Viertel des Gartens konnte für Wohn- und Nebengebäude genutzt werden. Das Wasser vom Dach sollte aus ökologischen und ökonomischen Gründen in ein geeignetes Gebiet abgeleitet werden, was für eine Gartenstadt logisch war. In den Gärten mussten Sickergruben eingebaut werden, wodurch in der Regel auf ein zusätzliches Abwassersystem verzichtet werden konnte.
Künstlerische Anforderungen
Die Bauordnung enthielt auch Anforderungen an die künstlerische Gestaltung. In Hellerau sollte es Beispiele für innovative Kleinstadtpläne geben, die die Wünsche der zukünftigen Bewohner berücksichtigen. Darüber hinaus mussten die Häuser sehr billig gebaut werden, um die Mieten erschwinglich zu halten. Letzteres war seinerzeit auch eine Herausforderung. Riemerschmid versuchte, dieses Problem durch die Schaffung von Typenhäusern zu lösen. Da er auch bei der Erstellung von Typenbauten nach höchsten künstlerischen Ansprüchen strebte, schuf er 34 Haustypen, die der Vielfalt des städtischen Umfelds gerecht wurden.
Karl Schmidt bemerkte dazu:
»…und die Häuser in Hellerau sind die ersten typisierten Häuser im Deutschen Reich, sowohl in Bezug auf die Grundrisse als auch auf Türen, Treppen, Fenster und Fensterscheiben. Die Häuser waren damals die billigsten Häuser, die erreicht wurden.«
Der Architekt Richard Riemerschmid standardisierte eine Vielzahl von Details, so dass Bauteile wie Fenster- und Türstürze, Untersichten, Treppen, Fenster, Türen, Fensterläden und Deckenbalken in großen Stückzahlen produziert werden konnten. Diese Lösung in Verbindung mit dem Farbschema: Türen, Fensterläden, Säulen, Brüstungen in Grün, Fenster in Weiß, Fassadenputz in kräftigem Ocker, ermöglichte strukturelle Einheit und Variation zugleich.
Riemerschmid bemerkte:
»Wenn so alles bedacht und gemacht ist, müßten im Ergebnis die Wohnstätten außen wie innen dieselben Eigenschaften zeigen, die wir auch bei den Bewohnern finden möchten: ehrlich und anständig, schlicht, genügsam und dazu stolz und ruhig, selbstbewusst, heiter und treu. Wenn man an einem Feierabend in einer solchen Gasse eine Schar gemütlich beieinander stehen sieht, nicht in Reih und Glied, nicht aufgeputzt, nicht irgendwie zur Schau sich stellend, sondern ohne strenge Ordnung, aber auch ohne daß sich einer belästigend vordrängte, in Hemdsärmeln vielleicht und und die Pfeife zwischen den Zähnen, in behaglichem Gespräch, dann sollte man sich denken müssen, ja, die passen zueinander, die Häuser und die Menschen.«
Hellerau heute
Hellerau ist auch heute noch ein beliebtes Forschungsobjekt. Diese kleine Oase unweit der Großstadt nahm den Geist der Erbauungszeit auf und war ein Experimentierfeld für Architekten und Stadtplaner. Heute ist Hellerau als eigenständiges Ensemble in seiner Gesamtheit anerkannt. Die Gartenstadt bietet trotz ihrer typischen Bauweise und der begrenzten Farbpalette ein vielfältiges und lebendiges Erscheinungsbild. Der Nachteil solcher gartenstädtischen Lösungen ist, dass sie etwas künstlich wirken, ähnlich wie eine Filmkulisse. In Hellerau ist dieser Effekt jedoch kaum spürbar, die Straßen gehen nahtlos ineinander über, das Bild wechselt ständig und das Auge erfreut sich an einer leichten monotonen Stimmung, den markanten horizontalen Linien und liebevoll gestalteten Details.