Wo warst du, Vati?

Abschied von den Illusionen der Kindheit.

Als ich im Alter von 30 Jahren zum ersten Mal Langlaufski ausprobierte, dachte ich: „Das ist eine totale Katastrophe“. Es war zu rutschig, die Skis ließen sich nicht lenken, meine Beine waren ständig entweder gekreuzt oder gespreizt. Die kleinsten An- und Abstiege verlangten von mir eine unglaubliche Anstrengung. Nach außen hin sah ich aus wie eine Person, die dringend Hilfe braucht: Eine ungeschickte, langsame Frau, die sich komisch bewegt, was ist los mit ihr? Starke und schöne Frauen und Männer, ältere Menschen mit ausgezeichneter Skilauftechnik, Familien mit kleinen süßen Kindern fuhren an mir vorbei. Die Kinder in ihren Skianzügen auf kleinen Langlaufskiern, die von ihren starken Vätern auf ihren winzigen Rücken gestützt wurden, berührten mich und machten mein Herz schwer. Ich dachte: Wo waren meine Eltern, als ich klein war, warum brachten sie mir nicht das Skifahren bei?

Nach einem Dutzend Stürzen und mit Symptomen von Unterkühlung kam ich nach Hause und schrieb meinem Vater eine Nachricht, dass ich zum ersten Mal Ski gefahren war. Er sagte, er sei schon immer Skifahrer gewesen und war sehr überrascht, dass ich immer noch nicht Ski fahren konnte. Als ob ich nicht seine Tochter wäre! Das passiert jedes Mal, wenn ich ihm erzähle, dass ich etwas nicht kann. Etwas, das die Menschen schon als Kinder lernen. Papa macht seine Augen rund und fragt: „Wie konnte das passieren?“ Ich habe die gleiche Frage an dich, Vati.

Was ich an meiner Mutter liebe, ist, dass sie ehrlich sagen kann, was sie mir als Elternteil nicht geben konnte. Sie ist in Sibirien geboren und aufgewachsen, weit weg von den großen Städten. An Schnee mangelte es dort nicht, und sie fuhr während ihrer Schulzeit im Sportunterricht Ski. Doch als sie ihren Reifezeugnis erhielt, verlernte sie offenbar das Skifahren. Schließlich sagte sie immer, sie könne nicht Ski fahren und könne es mir deshalb nicht beibringen. Danke für deine Ehrlichkeit, Mutti.

Mir schien es immer so, als wäre ich als Kind sehr bedürftig und unterversorgt gewesen. Meine Eltern wollten mir nichts Böses, aber manchmal fehlten ihnen einfach die Ressourcen, sowohl finanziell als auch mental. Es ist ein seltenes „Glück“, in einem der letzten Lebensmonate eines Staates wie der Sowjetunion geboren zu werden. Die Einzelheiten meiner Kindheit verblassten schließlich aus meinem Gedächtnis, und alles, was mir blieb, waren Emotionen – Traurigkeit und Verbitterung. Meine ältere Schwester bekam in den 80er Jahren meiner Meinung nach mehr als ich in den 90er. Die Menschen in den 90er Jahren mussten einfach überleben. Es gab keinen Platz für Skifahren, Schwimmen, Pferdesport oder etwas anderes.

Solche Forderungen beruhen auf dem Gefühl, dass man uns etwas schuldig ist. Aber niemand hat uns überhaupt ein Morgen versprochen. Vielleicht wäre es cool, bereits mit allen Talenten und Kenntnissen der Welt geboren zu werden. Dann müssten wir nicht erröten und uns für unsere mangelnde Erfahrung schämen. Aber jetzt schaue ich mir ein Video von mir an, wie ich auf Skiern herumwatschle, gebückt und mit Angst in den Augen. Mein Mann sagt: „Schau mal, wir werden dieses Video achtmal beschleunigen und es wird aussehen, als ob du eine Profisportlerin wärst!“ Danke, dass du mich immer wieder vor einer existenziellen Krise rettest.

Ich gab meinen Eltern die Schuld an meiner unglücklichen Kindheit, aber ich fühlte mich dadurch nicht besser. Letztendlich waren es meine Gefühle, und ich musste mit diesen Gefühlen irgendwie umgehen, den Ärger loszulassen und mein Leben selbst in die Hand zu nehmen. Ich bin endlich selbst erwachsen geworden, und Erwachsen zu sein bedeutet nun für mich, alle Ansprüche an meine Eltern aufzugeben, auch wenn es schwerfällt. Ich bin immer noch schlecht im Skifahren, aber ich gebe niemandem außer mir selbst die Schuld. Wenn ich in den 10 Jahren meines unabhängigen Lebens nicht Skifahren gelernt hatte, gab es dafür vielleicht einen Grund, der nicht in den Tiefen meiner Kindheit lag.

Beitragsbild: Natur Vektoren von Vecteezy