Auf der Suche nach einem deutschen Aussehen.
Um 9 Uhr morgens verlasse ich das Hotel. Ich bin verabredet. Ein langer Tag liegt vor mir und ich habe mich bequem angezogen: Ich trage eine khakigrüne Funktionsjacke, die wasser-, wind- und schnittfest ist, die weder verbrannt noch auf andere Weise zerstört werden kann, und alte braune Wanderschuhe, die mehr gereist sind als die meisten Einwohner meines Herkunftslandes. Dieses Outfit habe ich nicht für einen Wanderausflug gewählt, sondern für einen Spaziergang durch eine Stadt mit Hunderttausenden von Einwohnern. Ohne Make-up und Haarstyling werde ich so den Menschen in einer neuen Stadt begegnen. „Du bist schon gut integriert“ – lachte damals eine Freundin von mir in Anspielung auf mein Aussehen. „Ja, guter Witz…“ dachte ich mit einem Lächeln „…aber früher sah ich total anders aus“.
Als ich mit Anfang zwanzig nach Deutschland kam, war ich äußerlich und innerlich anders. Ich war sicher nicht die schönste Frau der Welt, kam aber damit zurecht. Wenn ich mir heute Fotos aus der damaligen Zeit anschaue, stelle ich fest, dass ich ziemlich hübsch war, meine Kleidung war eleganter, ich hatte lange Haare, ich verzichtete nicht auf Schmuck und Schminke. Nachdem ich die deutsche Realität kennenlernte, kam mir schnell der Gedanke, dass ich, um gut wahrgenommen zu werden, durchschnittliche deutsche Kleidung tragen sollte. Aus Angst, anders zu sein, wollte ich mit der Masse verschmelzen, mich nahtlos integrieren. Mein jüngeres Ich war so ängstlich und gleichzeitig gierig nach Anerkennung, dass ich mir ein Bild von der durchschnittlichen deutschen Frau machte und ihm folgte. Auf diese Weise setzte ich unwissentlich einen langen Prozess in Gang und es dauerte viele Jahre, bis ich „deutsch“ aussah.
Schritt für Schritt verlor ich alle meine Eigenschaften, mein wahres Ich. Zuerst ließ ich mir die Haare abschneiden. Zweitens: Ich verzichtete auf Make-up. Drittens habe ich meinen Stil völlig neu überdacht. Ich wollte nicht wie eine typische russische Frau aussehen, die die patriarchalische Gesellschaftsordnung ihres Herkunftslandes unterstützt. Einerseits verachtete ich die Deutschen für ihren mangelnden Geschmack, andererseits wollte ich alle ihre Privilegien genießen. Damals war das beste Kompliment: „Du siehst gar nicht russisch aus!“ Aber gleichzeitig begann ich den ambivalenten Charakter solcher Aussagen zu bemerken. Wenn eine Deutsche Absätze trägt, stört das niemanden, und wenn eine Russin das tut, hat sie eine patriarchalische Mentalität, sie will, dass die Männer sie mögen. Der Unterschied in der Wahrnehmung machte mich wütend und ich litt unter der Ungerechtigkeit.
Vielleicht war ich ja wirklich vom Patriarchat beeinflusst, weil ich eine neue Kultur annehmen und mit ihr verschmelzen wollte. Wie eine Braut, die in die Familie eintritt und demütig den Nachnamen ihres Mannes annimmt. Nein, das war nicht wirklich ich. Aber die neue Realität und meine neue untergeordnete soziale Stellung veränderten mein Selbstbild radikal. Um die Akzeptanz der Einheimischen zu gewinnen, gab ich mich auf. Ich wollte nur, dass man mich nicht anstarrt, und jetzt nimmt mich niemand mehr wahr. Ich hasse meine khakigrüne Funktionsjacke.
Es hat lange gedauert, bis ich das Erfolgsgeheimnis der Deutschen verstanden habe. Schließlich wurde mir klar, dass das Geheimnis der hiesigen Frauen gar nicht in ihrem Deutschsein liegt. Ihr Aussehen basiert nicht auf der Meinung anderer, denn wahrer Feminismus ist das Recht einer Frau auf Selbstbestimmung. Es ist das Recht einer Frau, so auszusehen, wie sie will. Ich hatte es von Anfang an, aber ich war mir dessen nicht bewusst. All die Sprüche in meine Richtung über mein Aussehen, meine Kleidung und meine Unreife kamen von giftigen Menschen, deren Selbstbewusstsein sehr gering war. Aufgrund meiner damaligen Offenheit nahm ich ihre Meinungen für bare Münze und passte mich ihren wankelmütigen und ambivalenten Forderungen an. Aber ich konnte sie nicht ändern. Das Einzige, was ich tun konnte, war, dickhäutig zu sein und meine Haltung ihnen gegenüber zu ändern. Jetzt bin ich endlich dabei, mich selbst neu zu entdecken und ich will nicht, dass mich jemand mag, ich will nur mit mir selbst im Einklang sein.
Beitragsbild: Sport Vektoren von Vecteezy