Hoorn, Mariatoren: Turm aus dem 16. Jahrhundert, Eiskeller und Kalligraph

Von den vier Häusern, die ich im Herbst 2020 in den Niederlanden besuchte, kann man eines kaum als Haus im üblichen Sinne des Wortes bezeichnen. Es war ein einsamer Turm aus dem Spätmittelalter, der am Ufer eines Kanals stand. Ich freue mich, meine Eindrücke von diesem ungewöhnlichen Ort zu teilen.

Geschichte

Der kleine, halbrunde Turm ist ein Überbleibsel der Verteidigungsanlagen der Stadt Hoorn. Er wurde 1508 auf dem Gelände des Marienklosters errichtet, das freundlicherweise das Grundstück zur Verfügung stellte und sich an den Baukosten beteiligte. Im Laufe von fünf Jahrhunderten diente der Turm abwechselnd als Verteidigungsturm, Pulverlager, Eiskeller und sogar als Werkstatt für Kalligraphen. Die Türme verschwanden nach und nach aus dem Stadtbild, nachdem die Verteidigungsanlagen ihre Funktion verloren hatten.

Dieser Turm ist ein absolutes Unikat, wie es auf dem Immobilienmarkt nicht zu finden ist. Vor relativ kurzer Zeit (im Jahr 1993) erhielt die von mir in meinem Beitrag über Maassluis erwähnte Vereinigung den Turm als Geschenk der Stadtverwaltung in Anerkennung ihres Beitrags zur Denkmalpflege.

Es ist erstaunlich, was für eine enorme Kette von Geschehnissen dazu beigetragen hat, dass dieser Turm überhaupt bis zum heutigen Tag überlebt hat. So sah der Turm hundert Jahre nach seiner Errichtung aus: Die unten abgebildete Zeichnung aus dem Jahr 1609 zeigt das Stadttor von Koepoort mit einer Holzbrücke davor. Auf der linken Seite befindet sich der Mariatoren-Turm. Von dem Tor und den Mauern ist nur noch eine Erinnerung übrig: Die Brücke, die an der Stelle ihres hölzernen Vorgängers errichtet wurde, trägt den Namen Koepoortsbrug nach eben diesem Tor.

Zeichnung aus dem Jahr 1609
Rijksdienst voor het Cultureel Erfgoed, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons

Um die Rolle des Turms besser zu verstehen, muss man sich die Karte des niederländischen Kartographen und Künstlers Frederik de Wit ansehen. Unten auf der Karte, etwa in der Mitte, sind das Tor und die Brücke aus der vorherigen Zeichnung zu erkennen, und links davon der Mariatoren-Turm selbst.

Hoorn im Jahr 1698
Frederik de Wit, Public domain, via Wikimedia Commons

Dies ist nur eine von 158 anderen Karten in einem Atlas aus dem Jahr 1698. Sie enthält auch Ansichten von Städten in den Niederlanden, Belgien und dem damaligen französischen Flandern. Es lohnt sich, sie in aller Ruhe anzusehen. Unter diesem Link ist sie zu finden.

Das nächste Mal wurde der Turm erst zweihundert Jahre später in einer Chronik erwähnt. Es ist bekannt, dass der Keller des Turms ab 1900 als Eiskeller genutzt wurde. Die dicken Ziegelwände und die gewölbte Decke sorgten für eine sehr gute Isolierung, und in der Nähe des Turms konnte direkt am Draafsingel-Kanal Eis geschnitten werden. In den wärmeren Monaten wurde das Eis von der Privatklinik De Villa genutzt (Draafsingel 61).

In den Jahren 1929-1930 wurde das ursprüngliche Dach des Turms wiederhergestellt. Gleichzeitig wurde ein Giebel an der Straßenseite hinzugefügt und die zuvor zugemauerten Fenster und Schießscharten wieder freigelegt.

Foto aus dem Jahr 1930
Rijksdienst voor het Cultureel Erfgoed, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons

In den frühen siebziger Jahren zog der Kalligraph Joop Willems in den Turm ein. Er nutzte es als Atelier und wohnte auch darin. In einer regionalen Fernsehsendung im Jahr 1987 erzählte Joop dem Reporter Joop van Hinte Geschichten über den Turm. Das Video ist zwar auf Niederländisch, aber man kann sich einen Eindruck vom damaligen Zustand des Turms machen und das knisternde Feuer im Kamin genießen.

Interview mit dem Kalligraphen Joop Willems

Mariatoren-Turm heute

Derzeit kann jeder den Turm für ein paar Tage mieten. Im Erdgeschoss befinden sich die Küche, das Esszimmer und das Wohnzimmer als ein gemeinsamer Raum. Der Eingang ist durch einen verglasten Vorraum abgetrennt: Die Rahmen sind nicht aus Plastik, sondern aus Holz, was meiner Meinung nach Respekt verdient.

Wenn Sie in der Küche kochen, können Sie ein Fenster öffnen und jeder, der vorbeikommt, begrüßt die Bewohner: Der mittelalterliche Turm ist für Passanten sehr interessant. Einmal wollte sogar eine Reisegruppe reinkommen, aber ich habe sie nicht reingelassen 😋. Ich war mir nicht sicher, ob ich das tun durfte. Daher konnte die Gruppe den Turm nur von außen betrachten.

Skizze des Grundrisses (EG links, OG rechts), die den Bewohnern zur Verfügung stehen

Der Turm befindet sich in einem ausgezeichneten Zustand: die Geschichte ist sichtbar und gleichzeitig verfügt er über alles, was man für ein modernes, komfortables Leben braucht. Alles ist sehr kompakt angeordnet, aber der relativ kleine Raum wird durch die sehr hohe Decke kompensiert.

Die Verglasungsarbeiten sind einfach Gold wert! Ich kann mir vorstellen, wie schwierig es war, die Rahmen genau an die Größe der Schießscharten anzupassen.

Eine steile Treppe führt in das Obergeschoss. Hier ist der gemütlichste Platz mit Tageslicht. Hier kann man lesen oder durch die farbigen Fensterscheiben einfach nur die Natur genießen.

Ich wollte unbedingt nachts auf der Galerie um den Turm herumlaufen, aber ich habe mich nie getraut 👻.

Es gibt keine mittelalterliche Toilette, das Badezimmer ist sehr modern.

Von allen Orten dieser Reise erinnere ich mich an diesen Turm mit besonderer Herzensfreude. Vielleicht liegt es daran, dass es das älteste Gebäude ist, in dem ich je gewohnt habe, aber wahrscheinlich eher daran, dass es ein unbeschreibliches Gefühl von Gemütlichkeit und Ruhe ausstrahlt. Es ist kein Zufall, dass ich dort zwei meiner Bilder vervollständigen konnte, die jetzt in unserem Wohnzimmer an der Wand hängen.